Virtuelle Realität vor Gericht könnte die Justiz revolutionieren. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde eine bahnbrechender Fall bekannt: Ein Richter in Florida erlaubte einem Angeklagten, das Geschehen mithilfe einer VR-Brille aus seiner eigenen Perspektive darzustellen. Der Vorfall ereignete sich auf einer Hochzeit im Jahr 2023, bei der der Angeklagte angeblich eine Schusswaffe den Gästen zeigte. Durch den Einsatz der VR-Technologie konnte der Richter das Ereignis aus der Sicht des Angeklagten direkt erleben.
In traditionellen Gerichtsverfahren stützen sich Richter und Staatsanwälte auf die von der Polizei gesammelten Beweise sowie auf die Aussagen von Zeugen, Opfern und Verdächtigen. Sie haben jedoch nicht die Möglichkeit, das Geschehen aus der Perspektive der Beteiligten selbst zu erleben.

Das Gericht in Florida entschied sich jedoch für einen innovativen und realistischeren Ansatz. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte, dass sein Mandant seine Verteidigung mit VR-Technologie präsentieren dürfe. Der Richter genehmigte diesen bislang einzigartigen Antrag und erlebte den Vorfall durch eine VR-Brille aus der Sicht des Angeklagten.
Gerichtssäle können für die Beteiligten sehr stressig sein. Dies kann dazu führen, dass Personen Schwierigkeiten haben, sich klar auszudrücken oder ihre Erlebnisse vollständig zu schildern. Technologie kann solche Herausforderungen erleichtern. Im Fall aus Florida konnte der Angeklagte seine Verteidigung mittels VR darstellen und so dem Richter seine Emotionen in der jeweiligen Situation direkter vermitteln.
Könnte VR-Technologie in der Schweizer Justiz eingesetzt werden?
Das Schweizerische Strafprozessrecht (StPO) enthält rechtliche Prinzipien, die den Einsatz von Virtuelle Realität vor Gericht ermöglichen könnten. Dazu gehören:
Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Beweisfreiheit) – Art. 10 Abs. 2 StPO:
Laut diesem Artikel dürfen Gerichte alle gesetzeskonform erhobenen Beweise frei würdigen. VR-Technologien könnten daher als Instrument zur Rekonstruktion von Ereignissen oder zur Visualisierung von Beweisen eingesetzt werden.
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme – Art. 139 StPO:
Dieser Artikel betont das Recht des Gerichts, Beweise direkt zu prüfen und zu bewerten. Die Nutzung von VR könnte Richtern helfen, ein Ereignis unmittelbarer und realistischer zu erfassen.
Theoretisch könnte also eine Partei in einem Schweizer Verfahren beantragen, VR-Technologie zur Beweisführung zu nutzen. Das Hauptproblem ist jedoch das Rechtssystem der Schweiz.
Die Schweiz gehört – wie die meisten europäischen Länder – zur kontinentaleuropäischen Rechtstradition. Dieses System basiert auf kodifiziertem Recht, das von der Legislative erlassen wird. Richter entscheiden auf Grundlage von geschriebenen Gesetzen und sind weniger an Präzedenzfälle (case law) gebunden.
Das bedeutet, dass eine gesetzliche Grundlage erforderlich ist, damit ein Angeklagter VR-Technologie in seiner Verteidigung nutzen kann. Ohne eine entsprechende Regelung wird ein Richter einen solchen Antrag wahrscheinlich ablehnen.
Unterschiede zum angloamerikanischen Rechtssystem
Im Gegensatz zu kontinentaleuropäischen Ländern (mit Ausnahme Großbritanniens) basiert das US-amerikanische Rechtssystem auf dem Common Law. Hier spielen Präzedenzfälle (precedents) eine entscheidende Rolle: Richter treffen ihre Entscheidungen auf Grundlage früherer Urteile, die dann bindend sein können.
In den USA müssen neue rechtliche Anträge nicht unbedingt in einem Gesetz festgelegt sein. Gerichte bewerten sie individuell und treffen ihre Entscheidungen. Daher sehen wir in den USA häufiger die Akzeptanz neuer und innovativer Methoden in Gerichtsverfahren.
Juristische und ethische Bedenken bei VR-Verteidigungen
Neben den rechtlichen Herausforderungen gibt es ethische Bedenken hinsichtlich der Nutzung von VR-Technologie vor Gericht:
Ungleiche Bedingungen zwischen den Parteien:
Nicht alle Beteiligten haben Zugang zu VR-Technologie oder können sie effektiv nutzen. Dies könnte einer Partei einen unfairen Vorteil verschaffen und das Recht auf ein faires Verfahren verletzen.
Manipulation durch subjektive Darstellungen:
VR-Darstellungen müssen erst erstellt werden – und das geschieht durch die Partei, die sie nutzt. Dies birgt das Risiko, dass die gezeigten Bilder subjektiv oder manipulativ sind und Richter oder Staatsanwälte beeinflussen könnten. Auch dies könnte das Recht auf ein faires Verfahren gefährden.
Aufgrund dieser Risiken könnte die Nutzung von Virtuelle Realität vor Gericht problematisch sein. Bevor solche Methoden offiziell zugelassen werden, müssen umfassende rechtliche Regelungen und Kontrollmechanismen geschaffen werden.
Nur wenn sichergestellt ist, dass VR nicht zu Manipulation oder Ungleichheit führt, könnte sie langfristig zu mehr Gerechtigkeit und Transparenz im Justizsystem beitrage.
DIE HIER VERFASSTEN ARTIKEL DIENEN DER INFORMATION UND GEBEN DIE MEINUNG DES AUTORS WIEDER. SIE STELLEN KEINE RECHTSBERATUNG DAR.
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